Bill Shoemaker (2010)

Die Evolution einer amerikanischen Perspektive

Die Geschichte Deines Lebens ist nicht Dein Leben. Es ist Deine Geschichte – John Barth

Mein Vater verbrachte einige seiner frühen prägenden Jahre in Europa, darunter ein unvergessliches Weihnachtsfest in den Ardennen. „Sie sind genau wie wir“, pflegte er über die Europäer zu sagen, „nur, dass sie anders sind.“ In dieser Einschätzung steckt weniger volkstümlich amerikanischer Reduktionismus als man denkt. Zig Millionen Amerikaner seiner Generation hörten regelmäßig, wenn nicht sogar täglich, europäische Sprachen, aßen europäisches Essen und hörten europäische Musik. Es ist eine Feststellung, die auf einem gewissen Maß an Vertrautheit beruht.

Ähnlich, aber nicht gleich: Das ist der Kern meiner anfänglichen Reaktion auf die ersten FMP Alben, die ich 1978 kennenlernte - Peter Brötzmanns Machine Gun (FMP 0090) und Manfred Schoofs European Echoes (FMP 0010) - die mir von einer allzeit zuverlässigen Quelle als Kernstücke des Jazz nach Coltrane angepriesen wurden. Damals war ich der felsenfesten Überzeugung, dass der Mittelpunkt der Musikwelt der Mittlere Westen war. Zugegeben, zu diesem Zeitpunkt hatte bereits eine epochale Wanderbewegung von namhaften Mitgliedern der ‚Association for the Advancement of Creative Musicians’ und der ‚Black Artists Group’ nach New York stattgefunden, darunter die Mitglieder des ‚Art Ensemble of Chicago’, die für mich mit Ancient to the Future die gesamte Bandbreite des Jazz nach Coltrane abdeckten. Dennoch war es im Mittleren Westen, wo beide Gruppen die gesamtidiomatische Empfindsamkeit ihrer international renommierten Mitglieder hegten. Dies ermöglichte es Komponisten, serielle und prozedural basierte kompositorische Konzepte aus den Werken von Boulez, Stockhausen und anderen abzuleiten. Gleichzeitig gaben diese Komponisten und Improvisatoren populären und traditionellen afroamerikanischen Musiksprachen gleich hohen Stellenwert, mit überraschend provokativem Ergebnis. Was für mich schlussendlich das Entscheidende war, war die Fähigkeit eines Musikers, eine greifbare ‚tod-ernste’ Sensibilität zu entwickeln, die diese riesige, nie dagewesene Fundgrube von Material und Methoden umfasste, um die Musik voranzutreiben.

Zunächst schien es, als wollten Brötzmann, Schoof und Kohorten die letzte Glut der Fire Music anfachen, was nicht gerade zukunftsweisend schien - ein Bereich, der mit wohl orchestriertem Medienhype bereits Anthony Braxton vorbehalten war - aber das war immer noch mehr, als die meisten Amerikaner taten. Der Tod John Coltranes und Albert Aylers hatte ein Vakuum hinterlassen, und nur wenige der Glanzlichter der 60er Jahre zeigten neue Wege auf. Pharoah Sanders war zu einem Rattenfänger mit einschläfernden Zwei-Ak kord-Stücken geworden. Archie Shepp war vollauf damit beschäftigt, die Tenor-Tradition zu rekapitulieren. Und Sun Ras Arkestra verließ sich zunehmend auf Fletcher Henderson Melodien. Das Problem eines Vakuums ist jedoch, dass es von allem gefüllt werden kann, und die Tatsache, dass die Europäer es mit einer solchen Rage füllten, bedeutete ein Dilemma, da der spirituelle Hintergrund der afroamerikanischen Jazz Avantgarde im Allgemeinen fehlte und von Machine Gun sogar negiert wurde.

Das Verständnis für den Antrieb dieser Musik wurde zunächst von der Botschaft des Albums erschwert. Schoof wollte mit seinem halbstündigen Werk für ein großes Ensemble, für das er eine regelrechte Loya Jirga von Improvisatoren aus sechs Ländern zusammengestellt hatte, eine europäische Identität entwerfen. Der Titel signalisierte jedoch gewissermaßen das Gegenteil - dass die Musik im Wesentlichen eine Reflexion über den amerikanischen Free Jazz war - eine kontinentale Himmelfahrt, wenn man so will. Brötzmanns Verwendung von gezeichneten, Schaufensterpuppen-artigen Maschinengewehrschützen und einem englischsprachigen Wörterbucheintrag für seine Cover Gestaltung deutete auf einen Themen komplex deutscher Nachkriegskunst und -literatur hin, für den ein Buch wie „Die Blechtrommel“ oder ein Film wie „Angst essen Seele auf“ nur unzureichende Vorbereitung waren. Auf dem Papier war die Botschaft unstimmig, so schien Brötzmanns direkte, wenn auch undurchsichtige Aggression in scheinbar grundlegendem Widerspruch zu Schoofs offenem Universalismus zu stehen.

Diese Unstimmigkeit wurde jedoch durch die Musik selbst wieder aufgehoben. Beide Alben waren in jeder Hinsicht explosiv, das Spielen war so zielsicher wie leidenschaftlich und gelegentliche Coltrane’sche Konturen und Taylor’sche Cluster, die dem Getöse entsprangen, stützten, wenn auch nur zaghaft, die Argumentation, dass Free Jazz und seine Nachfolger die Validierung und nicht die Zurückweisung einer dialektischen Jazz Tradition waren. Soweit der Teil mit ‚Ähnlichem’ in der Gleichung. Das, was ‚anders’ war, habe ich als ‚Edge’ (im Sinne von Biss/Schärfe) definiert. Edge ist dem Swing verwandt, insofern als beide ihren Ursprung in der Verbindung von Attacke und Rhythmus haben und darauf zielen, den Zuhörer anzuregen. Auf beiden Aufnahmen gibt es Stellen, an denen Edge auf Swing basiert, ähnlich Taylors Taktik von Verdichtung und Auflösung, eine Beschleunigung und Intensivierung des Materials, die eine neue rhythmische Grundlinie generiert. Häufiger jedoch übertrumpft auf beiden Aufnahmen die Intensität die Vorwärtsbewegung und genau hier zeigt sich Edge voll und ganz als Selbstzweck.

Obwohl dies der Kernpunkt dessen war, was an beiden Alben auffallend neu war, machte Schoof außerdem den mutigen Schritt, drei Pianisten, drei Bassisten und zwei Schlagzeuger für sein 16-köpfiges Ensemble anzuheuern, was erstaunliche Auswirkungen auf die Struktur des Stückes hatte. Generell ähnelte European EchoesAscension in der Hinsicht, dass zwischen Solos und kurzen Tutti gewechselt wurde, eine Form, zu der das Globe Unity Orchestra im Laufe der Jahrzehnte regelmäßig zurückkehrte (zwölf der Musiker haben im Globe Unity Orchestra gespielt, darunter auch sein Leiter Alexander von Schlippenbach). Der mittlere Teil des Stücks jedoch driftete erheblich von diesem Muster ab, denn Schoof wies etwa ein Drittel der Aufnahme den Trios und Duos mit Instrumenten der traditionellen Rhythmusgruppe zu. Die Passage für drei Klaviere (gespielt von Schlippenbach, Irène Schweizer und Fred Van Hove) hatte die Borstigkeit einer Nancarrow’schen Notenrolle; trotz seiner Wildheit spiegelte das Duett der Schlagzeuger Han Bennink und Pierre Favre ein sehr tiefes einander Zuhören wider, und das Trio der Bassisten Arjen Gorter, Peter Kowald und Buschi Niebergall war ein großartiges Geflecht von Texturen. Dies gab dem Stück eine unverwechselbare Form und signalisierte eine neue Gleichberechtigung zwischen den Instrumenten im Bereich der Freien Musik, die bis dahin von Blasinstrumenten dominiert war.

Trotz alledem blieb meine Amerika-Zentriertheit von European Echoes und MachineGun ziemlich unberührt. Wohl aber vervollständigte sich durch sie allmählich mein diffuses Bild europäischer Free Music, das im Vordergrund von The Topography ofthe Lungs und New Acoustic Swing Duo dominiert wurde. Zwar stärkte die FMP mein damals noch vages Empfinden, dass Bennink und Evan Parker, die sowohl auf Schoofs als auch auf Brötzmanns Album spielten, Derek Bailey, der das erste Solo auf European Echoes spielt, und Willem Breuker, der die drei Tenor-starke Front auf Machine Gun abrundete und das abschließende Stück des Albums schrieb, „Music for Han Bennink“, führende Persönlichkeiten innerhalb dieser Gemeinschaft waren. Trotzdem war ich nicht überzeugt, dass eine dieser Aufnahmen als Credo einer neuen Bewegung gelten könnte, eines, das das Zeitgenössische am Jazz auf den Punkt brachte und eine Ästhetik begründete, die keine offenkundige Verbindung zu den etablierten Jazzwerten hatte. Das war die große Errungenschaft von Roscoe Mitchells Delmark Debüt aus dem Jahr 1966, Sound. Das Eröffnungsstück des Albums, „Ornette“ war nicht einfach nur ein Tribut; vielmehr bildete Ornette Colemans Musik den Rahmen für Mitchells Aussage über die zentrale Rolle von Virtuosität und ihrer Projektion von Energie im Bereich des zeitgenössischen Jazz. Mit „The Little Suite“ und dem Titelstück artikulierte Mitchell eine Ästhetik, die sich nicht der Vorrangstellung der Virtuosität verschrieb, sondern Klängen, die im Raum koexistieren. Zu diesem Zweck brachte Mitchell eine Vielzahl von unorthodoxen Instrumenten in die Musik ein (viele davon wurden bald unter den Begriff der „kleinen Instrumente“ zusammengefasst); und er schuf seltsam schillernde Ereignisse, wie das Mundharmonika/Kalebasse Duett auf „The Little Suite“ und nutzte diese neue Ausdrucksweise, um das ursprüngliche Spannungsverhältnis zwischen Klang und Stille auf Sound zu wiederholen. Mitchell führte ein neues Paradigma für den Jazz ein, eines, das sogar noch zwölf Jahre später Gewicht hatte.

Die Gleichwertigkeit aller Klänge, die mehrdeutige Verwendung von Jazzdialekten, Ereignis-basierte Strukturen: all das sind Aspekte dessen, was Mitchell auf Sound einfließen ließ, so wie auch in die darauf folgende Musik in seinen eigenen Projekten und mit dem ‚Art Ensemble of Chicago’. Und es gab sie im Überfluss auf der nächsten FMP Aufnahme, mit der ich in Berührung kam - Schlippenbachs The Living Music (FMP 0100). Was mir sofort an dieser Aufnahme auffiel war, dass ich nicht direkt von Brötzmanns Kugelhagel oder Schoofs Eröffnungssalven getroffen wurde. Schlippenbach eröffnete die Geschehnisse mit mehrminütiger freier Rubato Polyphonie, akzentuiert von Momenten der Stille, gerade lang genug, um Spannung aufzubauen. Diese Struktur löste einen nachdenklicheren Ansatz der vier Hornspieler aus als erwartet - Brötzmann, Schoof, Posaunist Paul Rutherford (der auch auf European Echoes zu hören war) und Bassklarinettist Michael Pilz. Zusätzlich verstärkte Schlippenbachs und Benninks Gebrauch des Klavierinneren, von Röhrenglocken, Mallet-Percussion und Kalimba die Klangfarbe der Passage mit wohldosierten Klecksen lebendiger Farbe. Als Bennink etwa in der Mitte des fast 15-minütigen Stückes anfängt aufzudrehen, ist das eher organisch als überlegter Angriff. Dies entfacht ein sengendes Solo von Pilz, das einen in der Auffassung bestärkt, dass er das Bindeglied zwischen Eric Dolphy und Rudi Mahall ist. Als sich der Rest des Septetts ins Getümmel stürzt wird jedoch deutlich, dass Bennink der Solist ist, und die anderen Musiker ihn begleiten. Das wohlkalibrierte Runterdrehen war ein weiteres Indiz dafür, dass dies eine gut überlegte Komposition war.

Den Ton für das gesamte Album anzugeben gehörte jedoch nicht zu den Tugenden von The Living Music. Es bereitete mich nicht darauf vor, was folgen sollte. Zunächst schien „Into the Staggerin’“ des Pianisten vergleichsweise überraschend retro. Teilweise könnte sich der Titel auf die Artikulation des Septetts der eckigen Eröffnungslinien beziehen, damals eine ziemlich verbreitete Praxis im Avantgarde Jazz, wie auch der beschwingte anschließende Riff. Nach mehreren Wiederholungen zerfransten die Ausschmückungen der Bläser den Riff, bis er schließlich in einer energievollen Polyphonie mündet. Brötzmann tritt aus der Meute hervor, bläst seine Lungen raus; die Rhythmusgruppe (vervollständigt durch den Bassisten Buschi Niebergall) bricht aber abrupt ab und lässt den Saxophonisten ohne Netz zurück. Dieses kurze unbegleitete Solo veranschaulichte nicht nur Brötzmanns vernichtende Intensität, sondern demonstrierte auch die meisterhafte Kontrolle seines Horns, durch die Art wie er rhythmische Zellen mit beeindruckender Blatt- und Atem kontrolle verband. Brötzmanns Solo gipfelte in einer sich wiederholenden, Triolen-basierten Phrase, deren letzte Note er durch aufsteigende Tonhöhen und kontrastierende Texturen modifizierte, bis er ganz einfach aufhörte. Da der erste Teil von „The Living Music“ mit prägnanten Pausen durchsetzt war, war es für einen Moment nicht klar, ob das nachfolgende Thema - eine ungestüme, wiederholte Phrase, die gut in ein Frank Lowe Album passen würde - eine Fortsetzung von Schlippenbachs Stück war, oder der Anfang von Schoofs die Seite beschließendem Stück Wave. Das letztere war der Fall, was mich weiter in meinem Eindruck bestärkte, dass Schlippenbach ein mutiger Komponist war; er besaß nicht nur die Kühnheit, ein Stück mit Brötzmanns kreischendem Solo zu beenden, weit weg von dem Punkt, an dem es angefangen hatte, sondern setzte seine Komposition auch geschickt in Abfolge zu Schoofs, indem er die Stille zwischen den Stücken als Verbindung nutzte.

Die A-Seite von The Living Music war so gut zusammengestellt wie jede Blue Note LP und legte damit die Messlatte für die B-Seite sehr hoch. Schlippenbachs „Tower“ ist ein ungewöhnliches Eröffnungsstück. Durch die Art und Weise, wie Schlippenbach kaskadenartige Klavierläufe und weite deklarative Ak korde kombiniert, ähnelte die unbegleitete Klaviereinleitung stilistisch eher Randy Westons Ellington-Ansatz als dem des jungen Taylor. Das nachdenkliche, chromatische Ensemble hat auch etwas von der Ellington’schen Färbung, die ich in Julius Hemphills Kompositionen hörte. Brötzmanns Obligato Linien waren besonders wirkungsvoll, um den Sepiatönen Schlippenbachs dunklere Schattierungen zu geben. Das Ensemble erwies sich als ausgezeichnete Umrahmung für die glühenden Solos des Tenorsaxophonisten, der sich stärker als sonst an Coltranes und Sanders Ansatz anlehnte, und für den Pianisten, der sich fernhält von den langen Schatten Taylors und McCoy Tyners. Brötzmanns „Lollopalooza“ ist ein schlau konstruiertes Stück. Die erste Hälfte ist einem Bennink Solo gewidmet, in dem der Schlagzeuger geschickt Trommelfelle und Becken dämpfte, um Rhythmen von hoher Dynamik und doch niedriger Intensität zu erzeugen. Das Septett setzte dann unerwartet zu einer beißenden, wüsten Version des „Lied der Deutschen“ an, die sich schließlich mit immenser Kraft entlädt. Obwohl Nationalhymnen und Marschmusik bereits im satirischen Wortschatz der Jazz Avantgarde verankert waren, war diese Vorstellung international gesehen auf merkwürdige Art zersetzend und erhebend zugleich. Wieder wurden die Pausen zwischen den Stücken bewusst eingesetzt, um das mitreißende Finale, Schoofs „Past Time“, vorzubereiten. Nur ein Bruchteil einer Sekunde trennt den Gong, der „Lollopalooza“ abschließt, von dem Bennink getriebenem, Modal Bop lastigem Schoof Solo, das das Ensemble Finale signalisiert, eine raffinierte Stopp-Start-Linie, die zunächst in die Höhe steigt, auf dem Absatz umdreht, ein paar mal wild in die Luft schlägt, bevor sie wieder abhebt. Im Hinblick auf die Struktur hatte „Past Time“ eine ähnliche Funktion wie „40M“ auf Braxtons Five Pieces 1975, dessen glanzvolle Darbietung von Jazz Feuerwerken der alten Schule alle Zweifler zum Schweigen brachte, mich eingeschlossen.

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Inzwischen wird der Leser zahlreiche Vergleiche mit amerikanischen Musikern und Aufnahmen bemerkt haben, von denen einige erst Jahre nach den Veröffentlichungen von FMP rauskamen. Dies lässt sich durch eine einfache Tatsache erklären, die viele Europäer außer Acht lassen, wenn sie über das mangelnde Wissen der Amerikaner über europäischen Jazz klagen: Wir befanden uns in einem Vakuum. Es war nahezu unmöglich, die Platten in Geschäften zu finden, und es war ein Riesenhantier, eine internationale Postanweisung zu machen, ein Risi ko, sie zu verschicken und eine nervenaufreibende zweimonatige Warterei bis der Scheck verrechnet, die Bestellung versandt, und der Abholschein in einem Briefkasten im ländlichen Maryland gelandet war. Außerdem gab es keine Artikel über Künstler wie Brötzmann in der nordamerikanischen Presse, außer in der Coda, auf die man als US-Bürger fast genauso lange warten musste wie auf ein Päckchen mit LPs aus London oder Berlin. Ich hatte Glück - ich hatte jemanden, den ich mit einem Ortsgespräch erreichen konnte, und der sich wirklich gut auskannte. Und auch wenn das Vakuum durchbrochen war, musste man sich Platte um Platte voran arbeiten, um über die europäische Free Music auf dem Laufenden zu bleiben.

Demzufolge war meine Auffassung von den Tätigkeitsfeldern einzelner Musiker, dem Verhältnis zu seinen Kollegen und wie das wiederum alles den Parteilinien der Presse und den Stereotypen, mit denen sich die Europäer gegenseitig bewarfen, standhielt - die „Englische Krankheit“ euch allen! - zu einem großen Teil von dem bestimmt, was ich als Erstes hörte und las. Zugegeben, dieser Prozess zeugte von wenig bis keinerlei Entwicklung meinerseits, seit ich als Kind die 78er Platten meiner Eltern entdeckte, gelenkt vom Leitsatz meines Vaters über Swing Bands - „Wenn du großartige Musiker hören willst, nimm Basie oder Ellington; aber wenn du tanzen willst, dann ist Lunceford dein Mann“ - eine elegante Huldigung an die divergierenden Tugenden des Jazz. Ich erkannte bald, dass es auch in der europäischen Free Music etwas von dieser gleichen zweigleisigen Wahl gab: Wenn man kühn konzipierte, meisterhaft konstruierte Musik hören wollte, dann war Schlippenbach genau der Richtige. Dieser Eindruck verstärkte sich, als ich Payan entdeckte, Schlippenbachs weitgehend wenig beachtetes Solo Album, 1972 aufgenommen für Enja. Dank eines seltsamen, wohl unsinnigen Lizenzvertrags mit Audiofidelity aus den Mittsiebzigern war das Album fast augenblicklich auf den Wühltischen der USA allgegenwärtig. Payan umfasst funkelnde Fugen, verzwickte Tonreihen und dichte Cluster. Dies bestärkte mich in dem Gefühl, dass Schlippenbach einen Panoramablick auf zeitgenössische Strömungen hatte; obwohl es noch Jahre dauern würde, bis ich von seinen Studien mit Bernd Alois Zimmermann hörte, war es offensichtlich, dass der Pianist von der Musik des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts genauso durchdrungen war wie vom Jazz, und dass er diese beiden Traditionen verknüpfte, um die Verbindungen zwischen Komposition und Improvisation zu erweitern.

Wenn man dagegen einfach nur das Haus abfackeln wollte, dann war Brötzmann der Richtige. Bennink mag zwar der Brandbeschleuniger gewesen sein, aber Brötzmann war der Zünder - er konnte sogar Albert Mangelsdorff aus der Reserve locken, den stets angenehmen Frontmann für staatlich sanktionierten Jazz. Zeitnah zu dem Album mit dem allessagenden Titel Balls 1970 (FMP 0020) gehört, verstärkten die drei LPs mit Brötzmann/Van Hove/Bennink und dem schon etablierten Posaunisten – Elements (FMP 0030),Couscouss de la Mauresque (FMP 0040) und The End (FMP 0050), alle ‘71 aufgenommen - mein Gefühl, dass Brötzmann eine Art Agens von etwas wie kreativer Zerstörung war, dieses wirtschaftliche Phänomen, bei dem unerwartete Innovationen von Außen Großunternehmen zu leeren Hülsen machen und ihre Markt-dominierenden Produkte fast über Nacht veralten lassen. Der eigentliche Coup in diesem Unternehmen war, Mangelsdorff einzuberufen, der mit der Leidenschaft eines Bekehrten spielt; seine gedämpften Laute, sein Schnaufen und Röhren so reißend und bedrohlich wie Brötzmanns Blatt-spaltende Schreie.

Hier kommt Edge besser als alles andere. Es gibt keinen Kompromiss; es ist Kontext-resistent. Hier kann man sich nicht mit der Terminologie unserer heutigen Kulturwissenschaft durchschummeln. Jeder andere Kommentar als „Fuck, yeah!“ ist überflüssig. Es gibt nichts anderes zu tun als sich davon zwischen den Ohren treffen zu lassen. Teilweise lenkte die berauschende Schärfe ihrer Randale ab von den von Third World Percussion geprägten Passagen und der kehlköpfigen Polyphonie Mangelsdorffs, genau wie die an den Romantizismus des 19. Jahrhunderts und den damals auf kommenden Minimalismus erinnernden Einlagen in Van Hoves Spiel. Aber sie halten nicht lang genug an, um als mehr als Windstille zwischen den Stürmen gelten zu können; innerhalb der Aufnahme sind sie nebensächlich, nicht entscheidend.

Das Gefühl für Proportionalität und Gestaltung, das Schlippenbach auf The LivingMusic einbrachte, gehörte nicht zu Brötzmanns Programm und stand wohl eher im Widerspruch dazu. Darüber hinaus ist Edge in Brötzmanns Musik Ausdruck einer ideologischen Reinheit, die das appositionelle Verhältnis zwischen Edge und Swing, das auf The Living Music und den ersten Aufnahmen des Schlippenbach Trios und Quartetts - Pakistani Pomade (FMP 0110) und Three Nails Left (FMP 0210), angedeutet wird, aus der Spur bringt. Während Edge auf dem Septett Album in Schach gehalten wurde, wurde es in Schlippenbachs kleineren Gruppen kooptiert. Schlippenbachs und Parkers jeweilig gut dokumentierte Wurzeln im hart treibenden Jazz der Afro-Amerikanischen Avantgarde der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre ist hier von zentraler Bedeutung. Es führt eine direkte Linie von den stechenden Ak korden eines frühen Taylors und Mal Waldrons zu denen Schlippenbachs; sie sind das metronomischste Element in der Musik der Gruppe. Sicher, es taktet den Rhythmus von Parkers Improvisationen; in Verbindung mit Schlippenbach spielt er eher das taffe Tenor als in anderen Gruppen zu dieser Zeit. Paul Lovens brachte keine konventionelle Jazzschlagzeugtechnik mit ins Geschehen, genauso wenig orientierte er sich an Sunny Murrays Klängen von zersplitterndem Glas oder Milford Graves holistischen Rhythmen. Stattdessen erlaubten ihm seine extrem schnellen Reflexe, rhythmische Information in die Musik einfließen zu lassen, ohne ausdrückliche Schläge oder Muster, ein Ansatz, der ganz explizit sein eigener ist. Ganz ähnliches kann man von Kowald sagen, als er zur Gruppe kam. In der Auslegung ihres Materials war das rhythmische Momentum von Schlippenbachs Trio und Quartett ‚close enough for jazz’ - nah genug dran - nennen wir es Swing ohne die 1. Als besonders lebendig erwies sich Edge bei der Entwicklung von Material durch die Intensivierung von Attacke und Textur. Und es wurde Bestandteil von Schlippenbachs Musik. Während es vielleicht das zeitgenössischste Element seiner Musik zu dieser Zeit war, war es auch Teil eines größeren Entwurfs von Improvisation in kleineren Gruppen.

In der Folge haben diese frühen FMP Aufnahmen etwas in meinem Verständnis von europäischer improvisierter Musik fest verankert, das vergleichbar ist mit der Hören/Tanzen-Einstellung meines Vaters bei Swings Bands. In meinen ersten Rezensionen für Coda im Jahr 1980 zu Aufnahmen wie A European Proposal (Horo) - zwei LPs mit Improvisationen von Bennink, Misha Mengelberg, Rutherford und Mario Schiano - waren jazzorientierte Virtuosität und Gestaltung das Maß der Dinge. Schlippenbachs Ansatz war maßgeblich.

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Amerikanische Autoren haben die europäische improvisierte Musik seit mehr als 30 Jahren intensivst rezensiert und einige der maßgebenden Bücher darüber geschrieben. Während es von Anfang an Konsens über die Kernfragen unter den US-Kritikern gab - über die Legitimation dieser Musik, ihre wichtigsten Vertreter und ihre europäische Sprache - gab es immer unterschiedliche Meinungen darüber, wie die Errungenschaften einzelner Künstler innerhalb ihrer jeweiligen Gemeinschaft und innerhalb des europäischen Kontexts zu gewichten seien. Ich bin überzeugt, dass diese Diversität teilweise auch durch die ungleichmäßige Verbreitung der Musik in den USA in den späten siebziger Jahren zu Stande kam. Wie auch immer, diese Unterschiede bestehen und ihr Wesen sollte verstanden werden, um den Irrtum der amerikanischen Sichtweise vollständig zu begreifen.

Mike Heffleys Northern Sun/Southern Moon: Europe’s Reinvention of Jazz (2005; Yale University Press) und Kevin Whiteheads New Dutch Swing (1998; Billboard Books) sind zwei Bücher, die ich wärmstens empfehle. Beide sind gründlich recherchiert und geschrieben, und die jeweiligen Thesen sorgfältig erarbeitet. Trotzdem bin ich mit ihrer Einschätzung bestimmter Musiker nicht einverstanden, deren Arbeit ich komplexer und nuancierter finde, oder auch entscheidender für die Entwicklung ihrer jeweiligen Umgebung. Maarten Altena, zum Beispiel, spielt meiner Meinung nach eine wichtigere Rolle in der Entwicklung der holländischen Musikszene als nach Whiteheads Einschätzung. Zugegeben, als Whitehead das Buch in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre schrieb, hatte sich der Bassist/Cellist so gut wie ganz von der Bühne zurückgezogen und das Maarten Altena Ensemble, einstmals eine Brutstätte für Improvisatoren wie Mark Charig, Michael Moore und Wolter Wierbos, in eine kammermusikalische Gruppe mit zeitgenössischem Repertoire umgeformt, das auch immer weniger auf den Output seines Namensgebers angewiesen war. Altena - Sideman bei Dexter Gordon und Marion Brown; freier Improvisator und Konzeptionalist, der mit Schauspielern arbeitete und ein Soloalbum aufnahm mit einem Gips sowohl an seinem gebrochenen linken Arm wie auch am Hals seines Basses; musikalischer Leiter, der so gleichgesinnte Komponisten-Improvisatoren wie Maurice Horsthuis und Paul Termos in Ensembles zusammenbrachte, die die strengeren und herberen Züge der Neuen Holländischen Musik exemplifizierten - personifiziert nicht weniger als andere die Gleichung, die über dem Titel auf dem Umschlag des Buchs steht: „Jazz + Classical Music + Absurdism =“. Whitehead bespricht Altena im vorletzten Kapitel des Buches, unter dem Titel „Side Exit“. Eine faire und kenntnisreiche Art, einen Künstler jenseits aller Kategorien zu besprechen, loslösend, wenn nicht schon losgelöst von der Szene, die Whitehead so lebendig beschreibt; allerdings - Altena in den Mittelpunkt der Schilderung von den Sechzigern bis in die Achtziger Jahre zu stellen, ist ein weiterer Beweis für die dynamische Kraft der holländischen Szene. Und wo wir gerade im Zeugenstand über die FMP sind, gibt es einen Zeugen für Two Making aTriangle (FMP 0990), Altena und Kowalds Duoalbum von ’82?

Über Schlippenbach sind Heffley und ich unterschiedlicher Meinung. Obwohl im Einklang mit meinen ersten Eindrücken über ihre Arbeit, funktioniert Heffleys These, verdeutlicht durch die Überschriften zweier aufeinanderfolgender Unterkapitel - Peter Brötzmann (Improvisation) und Alexander von Schlippenbach (Komposition) - für mich nicht. Hinzu kommt, dass Heffleys Argument über Schlippenbach als Komponist zu sehr auf der Arbeit des Pianisten mit dem Globe Unity Orchestra basiert. Die erste Komposition von 1966 ist ohne Frage ein Meilenstein für die Verschmelzung von Jazz und zeitgenössischer Musik (zurückzuführen auf sein Studium bei Zimmermann), ein Ansatz, der weiter ausgebaut wird durch die Versionen auf Globe Unity’67 & ’70 (Atavistic). Dennoch ist die Titel komposition von Hamburg ’74 (FMP 0650) Schlippenbachs einzige weitere ordensverdächtige GUO Komposition, ein brillant erdachtes, siebenteiliges satirisches Oratorium, das einmalige Dialoge zwischen dem improvisierenden Orchester und einem Radiochor anstiftet. Die übrigen Stücke Schlippenbachs, die vom Orchester in der sogenannten ‚Wuppertaler Zeit’ aufgenommen wurden, sind von geringerer Bedeutung. (In seinen Anmerkungen von 1991, anlässlich des 20-jährigen Jubiläums (FMP CD 45), bezeichnet Schlippenbach das von Kowald geschriebene Jahrmarkt/Local Fair [1975-6; Po Torch] als die wichtigste Aufnahme dieser Phase in der mitunter stürmischen Geschichte des Orchesters.)

Trotzdem geht Heffley recht ausführlich auf Schlippenbachs Beitrag als Komponist und Arrangeur von Live in Wuppertal (FMP 0160) ein; die Aufnahme von 1973 beginnt mit Schlippenbachs Orchestration von Jelly Roll Mortons „Wolverine Blues“, gefolgt von einigen seiner eigenen Kompositionen. Heffley stellte nicht einmal die wenigen nur scheinbar schwachen, tatsächlich aber entscheidenden Verbindungen zwischen diesen Stücken und einem genialen Paar von Aufnahmen Schlippenbachs her, die nicht in Heffleys Dis kographie vor kommen: Payan und Jelly Roll (FMP/SAJ-31), die Kommission für die RAI Bigband von 1980 und ein von Schlippenbach ausgewähltes Quintett. Das Licht, das diese Alben auf Schlippenbachs Sensibilität werfen ist entscheidend für die volle Befürwortung seiner Kompetenz als Komponist. Heffley weist hin auf die Balkan Rhythmen und Tonleitern sowohl auf „Payan“, dem zweiten Titel des Albums und, zwei Stücke weiter, „Yarrak“; die vorangegangenen Versionen auf dem Soloalbum von 1972 erwähnt er jedoch nicht. Die Soloversionen haben einen treibenden Rhythmus, der Schlippenbachs Verbindung zu einer in Morton verwurzelten Jazztradition unterstreicht; letzterer mit einem virtuosen linkshändig gespielten Part, der ein Achteltakt Gefühl mit polyrhythmischer Inflektion schuf.

In seinen Anmerkungen zu Jelly Roll schrieb Schlippenbach, dass es für ihn Priorität hatte, „den Reichtum an Bewegung der ‚rollenden Linien’ innerhalb der Abschnitte wiederzuspiegeln“, die er sowohl aus dem mehr oder weniger chaotischen GUO sowie auch aus dem polierten Sound der RAI Big Band zu holen versteht. Diese Qualität war bereits auf Kompositionen wie „Into the Staggerin’“ auf The Living Music zu spüren und wurde bedeutend für spätere GUO Stücke, wie „Boa“ auf Compositions (1979; JAPO), so wie auch für Kompositionen für das Berlin Contemporary Jazz Orchestra. In seinen Anmerkungen zu der Aufnahme des BCJO aus dem Jahr 1993, The Morlocks and other pieces (FMP CD 61), erklärte Schlippenbach, dass sein Ziel für das Titelstück war, Bewegungswellen durch das ganze Orchester zu schaffen, indem Ostinati genutzt wurden, die die Musiker „nach mehrfacher Wiederholung improvisatorisch oder genauer gesagt variationsmäßig weitertreiben, so dass sie sich im Idealfall in der Überlagerung potenzieren.“

Schlippenbach kam mit seinem Trio zu einem ähnlichen, eleganten Mittelweg zwischen Komposition und Improvisation; Kowald und, in den frühen 80er Jahren auch Alan Silva, können als reine Zusätze in dieser Hinsicht gesehen werden. Sowohl bei Parker als auch bei Schlippenbach steht das Motiv im Mittelpunkt der Improvisation; sie haben ihre jeweiligen Ausgangspunkte und Ausrichtungen, und sie hören einander bei der Entwicklung ihres Materials genau zu. Lovens findet zielsicher die rollenden Linien zwischen Schlippenbach und Parker; auf seinem unorthodoxen Schlagzeug herumflitzend betont er mal die Rhythmen, mal drückt er dagegen, eine in sich fragmentarische Herangehensweise, einzigartig in ihrer Fähigkeit, ein improvisierendes Ensemble zusammenhalten. Es ist schwer, Schlippenbachs Texte über Komposition zu lesen und dabei nicht herauszuhören, wie sie auf diesen Free Jazz Rahmen zutreffen. Und, in Anbetracht seines 40-jährigen Bestehens, halte ich das Trio für die beste Einleitung in die Gesamtheit der Kunst Schlippenbachs.

Obwohl sie sich über die Jahre hinweg weiterentwickelt und vertieft hat, bleibt meine Einstellung zu Schlippenbachs Musik weiterhin von den beiden Alben geprägt, die ich als erste hörte: The Living Music und Payan.

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Das erste Interview mit dem Vertreter einer Schule oder Gemeinschaft von Musikern kann das Denken eines Journalisten über die Musik sogar noch mehr bestimmen als die ersten Aufnahmen, die er (oder sie) hört. Das trifft zweifellos auf mich zu. Mein Interview mit Fred Van Hove im Oktober 1980 erweiterte unwiderruflich meine Sichtweise über europäische Freie Improvisation, ein fortlaufender Prozess, wie meine Veröffentlichungen eindeutig zeigen. Es ist symptomatisch für das Schneckentempo bei der Verbreitung der Medien in der damaligen Zeit, dass das Interview erst im Heft 180 der Coda veröffentlicht wurde, ein gutes Jahr später.

Übersetzung: Isabel Seeberg & Paul Lytton

aus: Buch der Spezial Edition FMP im Rückblick

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