Markus Müller (1994)

25 Jahre "The Living Music" 1)

Es ist nicht zu fassen, so sehr wir uns auch anstrengen mögen. Wir können weder die Zeit, noch die Musik besitzen. Die Firma existiert immer noch, und seit einem Vierteljahrhundert produziert sie das, was Alexander von Schlippenbach „The Living Music“ genannt hat. In der Rückschau neigt man dazu, das, was es bedeutet haben mag, 25 Jahre lang, „…mitten im Kapitalismus, auf dem Felde des Kapitalismus gegen den Kapitalismus an-(zu)spielen, an(zu)treten…“, 2) als selbstverständliches „Wunder“ zu verklären. Tatsächlich stützen sich solche „Wunder“ in der Regel auf kontinuierliche Knochenarbeit im bürokratischen Alltagssumpf.

Nachdem 1992 das „Total Music Meeting“ und 1993 der „Workshop Freie Musik“ ihre Vierteljahrhunderte feiern konnten, läuft der Motor dieser Ereignisse, die „Free Music Production“, 1994 in seiner 25sten Runde. 1969 fing es mit Manfred Schoofs Orchestra und den „European Echoes“ (FMP 0010) an. Gleichwohl liegen mir das inbesitznehmende Glückwunschkärtchen, das Schulterklopfen und Händeschütteln, mit denen wir alle in der Regel 25jährige Jubiläen, zumal die erfreulichen, als Wegmarken und Hoffnungsschimmer in der Zeit, die uns durch die Finger rinnt, feiern, fern. Der Verdienst der „Free Music Production“ ist nicht nur, seit 25 Jahren quer zu Mode und Zeitgeist dem Lauf der Dinge das ein oder andere Schlaglicht in die richtige Richtung mitgegeben zu haben. Das Bemerkenswerte der FMP lässt sich nicht erschöpfend mit der Auflistung der bekannten „Meilensteine“, wie z.B. der kontinuierlichen Dokumentation der Emanzipation zeitgenössischer europäischer Improvisation (und zwar auch der in der ehemaligen DDR!) oder der Dokumentation der Kooperation zwischen Cecil Taylor und der europäischen Avantgarde mit der mittlerweile legendären, 11 CDs umfassenden Box: „Cecil Taylor in Berlin ’88“, beschreiben. Der Schlüssel zum Erfolg des „Indie-Oldies“ liegt vielmehr in der Tatsache, dass es der FMP (als Musikerkooperative gegründet und später von Jost Gebers zu einem „praktikablen Instrument“ entwickelt) gelungen ist, mit Leidenschaft, Konsequenz und Kompetenz, ein Netzwerk aufzubauen. Dieses Netzwerk hat dynamische Rahmenbedingungen ermöglicht, in denen Musik sich, weitestgehend unabhängig von den Gesetzen des Marktes, nach ihren eigenen ästhetischen Prinzipien entwickeln konnte, entwickeln kann. Und so war es möglich, dass die FMP Musik präsentiert, die so vielseitig ist, wie in kaum einem anderen Katalog des Musikgeschäfts.

Die „Trommel Tour de Force“ von „Africa Djolé“ (FMP CD 1) steht als begeisternde rhythmische Grundlagenforschung selbstverständlich neben „Shanghaied On Tor Road“ (FMP CD 46), der hinterhältig verschmitzt unterhaltsamen „ersten Operetta, die mit nichts als dem Daxophon“ von Hans Reichel realisiert wurde. Die beste „neue Musik“ des „King Übü Orchestrü“ (Binaurality, FMP CD 49) öffnet die Ohren und Wahrnehmungsgewohnheiten auf ganz andere, aber doch ähnliche Weise, wie die beste „neue Musik“ des frei improvisierenden Powerplays von Charles Gayle, William Parker und Rashied Ali (Touchin’ on Trane, FMP CD 48). Evan Parkers Forschungsreisen in die Klangwelten des Saxophons und der modernen Studiotechnik (Process and Reality, FMP CD 37) faszinieren in ihrer „Hellhörigkeit“, Alexander von Schlippenbachs „Berlin Contemporary Jazz Orchestra“ (FMP CD 61) fasziniert mit seiner kompakten Auffrischung des Big-Band-Sounds.

Noch wesentlicher als diese Vielseitigkeit, die hier nur angedeutet werden kann, erscheint mir allerdings die Dokumentation musikalischer Entwicklungen. In keinem anderen Bereich der Kunst- und Kulturszene der letzten 25 Jahre lassen sich so grundlegende und werkimmanente Entwicklungen erleben, wie über die Tonträger der FMP.

Peter Brötzmanns Schritt von der klassischen „Energieorgie“ „Machine Gun“ bis zu der nicht weniger energiegeladenen, aber im Wesentlichen durch idealtypisches Zusammenspiel geprägten, oft überraschend melodisch-lyrischen Einspielung seines aktuellen Quartetts (Die Like A Dog) wäre ohne die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit der FMP nicht vorstellbar. Das „Schlippenbach Trio“ hat sich seit „Pakistani Pomade“ (1972, FMP 0110) zu der herausragenden Improvisationscombo unserer Zeit zusammengefunden. Die 1990er Aufnahme „Elf Bagatellen“ (FMP CD 27) ist in musikalischer wie aufnahmetechnischer Hinsicht ein Meisterwerk vielschichtiger musikalischer Kommunikation. Und wer würde vermuten, dass „Messer“ (Irène Schweizer, Rüdiger Carl, Louis Moholo, 1975, FMP 0290), feinster Free Jazz, von Musikern eingespielt wurde, die zum Teil fast 20 Jahre später im „Cowws Quintett“ (Schweizer, Carl, Oliver, Wachsmann, Witwer) eine Produktion (Grooves ’n’ Loops, FMP CD 59) mit kantigen, kammermusikalischen, spacigen Tanzdielenknallern vorstellen. Wer genau hinhört, hört auch, dass Cecil Taylors FMP-Aufnahmen nicht nur für die Firma ein „Meilenstein“ sind. Offensichtlich haben sich auch in Taylors Spiel neue Perspektiven entwickelt. Hans Reichels „Wichlinghauser Blues“ (1973, FMP 0150) war die Grundlage für eine einzigartige musikalische präzise Schönheit in der Improvisation, die heute nicht umsonst viele Hörer an Haikus denken lässt. Und Peter Kowalds Duo-Einspielungen (Duos Europa-America-Japan) sind ein programmatisches Beispiel für die Öffnung der FMP und „ihrer“ Musik über alle kulturellen und musikalischen Grenzen hinweg.

Sidney Bechet hat gesagt: „You just can’t keep the music unless you move with it. There’s this mood about the music, a kind of need to be moving”. 3) Die FMP ermöglicht uns dieses Abenteuer zu erleben. “The Living Music”, seit 25 Jahren. 1)

  1. Alexander von Schlippenbach: “The Living Music”, FMP 0100
    Aufnahme: 24.04.1969
  2. Wilhelm E. Liefland, nach Forst: Free Music Production, Berlin 1981
  3. Nach Steve Lake: Sleeve Notes zu Peter Brötzmann:
    The März Combo Live In Wuppertal, FMP CD 47, 1993

aus: Faltblatt/Katalog, Free Music Production (FMP), 1994

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