Bert Noglik (1988)

Wildhäger im Februar

„Radepur im Februar“. Auf dem Cover vermerkt: sieben Minuten und vierunddreißig Sekunden. Leo Smith / Peter Kowald / Günter Sommer auf “Touch The Earth” (FMP 0730). Ein Stück improvisierter Musik, balancierend auf dem Pol, der Hitze und Kälte zusammenschmilzt. „Ein Stück über dem Boden“ wohl auch. 7'34” Augenblicke, die jeder oder jede nach Herzenslust oder Herzensleid fassen oder deuten mag. Zum Verständnis des verbalen Titels erweist es sich als hilfreich, die Namen der in der DDR handelsüblichen Tranquilizer zu kennen. Oder auch nicht. Radepur jedenfalls ist rezeptpflichtig. Manchmal hilft auch einfaches Helles, eins oder mehrere. Jost Gebers ruft mich an, noch im Januar. Schreib mal was für unser Booklet, schreibst du was? Ja, was denn, ein Musiker-Porträt vielleicht? Nein, lieber etwas Übergreifendes. Etwas über die Szene. (Nein, ,Szene' hat Jost nicht gesagt, aber irgend so etwas gemeint hat er schon.) Was sich so verändert hat, vielleicht darüber. Ja, aber darüber habe ich doch schon mehrfach... Und es verändert sich doch auch laufend. Und ich weiß auch gar nicht, ob es die ,Szene' überhaupt noch gibt, jemals gab. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer wird meine Annahme, dass das Übergreifendste, was es gibt, der Einzelne ist. Also doch mal lieber nichts über einen Einzelnen, sagt Jost. Lieber etwas, wo viele Namen drin vorkommen. (Bloß kein Name-Dropping, durchzuckt es mich.) Ach ja, sagt die Stimme am Telefon, und dein Text müsste bis spätestens Mitte Februar bei mir sein.

Es muss ja nicht zusammenhängend sein. Wenigstens das nicht. Endlich. In diesem bleiernen Winter, der nicht einmal ein Winter ist, drücken sich die Schreibmaschinentasten schwer. Konturlose Übergangszeit. Anfälle von Sprachlosigkeit. Dass jede Gegenwart Übergangszeit ist, kann kaum als Trost herhalten. Wildhäger (VEB Weinbrennerei Meerane) statt Freibeuter. Wildhäger im Februar. Und die ganzen alten FMP-Platten um die Ohren. Wie's weitergeht? Ich werd mich hüten, ein Statement abzugeben. Was war, war. Und es war doch auch, naja, musikalisch ganz schön? Ja, ja es war ein Stück Leben. Und außerdem: „Beauty Is A Rare Thing“(Coleman). „Willst du wissen, was schön ist?“, steht bei Rühmkorf: „Bloß so: paar Blätter zusammengeweht.../ Lass uns ein Beispiel bilden, das eigentlich nicht mehr geht“. „Rien ne va plus“ (Günter Christmann/Torsten Müller; FMP 1100). Und schon muss wieder eingesetzt werden. Nicht weniger als alles, wenn der Moment zählen soll. Mit dieser Musik verbündet, sind wir immer auf dem Trip des Augenblicks. Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke. So muss es in etwa bei Böll stehen. Viel zitierter Dolphy in my mind. Scratch Music, Scratch Video. Scratching mit Worten, Zitaten, Augenblicken. Scratching mit der Wirklichkeit. Wirklichkeit aus Improvisationen gewebt. Last Date. Eric Dolphy mit Misja Mengelberg (ja, damals noch mit „sj“), Jacques Schols und Han Bennink. Aufgenommen am 2.Juni 1964.

“….after it's over, it's gone, into the air. You can never capture it again.” Eingeblendet, eine Passage aus einem Zehn-Minuten lnterview, am Ende des Titels „Miss Anne“. Am Ende der Diskographie steht der Satz: Eric Allan Dolphy, Jr., died suddenly in Berlin, Germany, on Friday, 29 June 1964. Ja, so ging das, so geht das. Wir sollten mehr über Miss Anne wissen. Oder auch nicht. Das Altsaxophon sagt doch alles. Gone, into the air. Eine frühe Komposition von Dolphy hieß „Miss Movement“. Derek Bailey: „lmprovisation verzichtet auf vorbereitende oder dokumentierende Nebenprodukte und ist ganz und gar eins mit der nicht dokumentarischen Natur der musikalischen Darbietung“. Zustände kann man beschreiben, Augenblicke nur erleben, aufnehmen. Das Mysterium der Snapshots, alt wie die Hüte von Thelonious Monk. Ohrenzeugen. Das Ohr ist immer offen. Ohren- Augenblicke in sich aufnehmen, auf Film, auf Tapes aufnehmen. Beispiele bilden, wissend, dass es keine exemplarischen Augenblicke gibt. Movements, moments. For Example/Workshop Freie Musik ( FMP R1, FMP R2, FMP R3). Snapshot/JazzNow/Jazz aus der DDR ( FMP R4, FMP R5). Der Flüchtigkeit abgetrotzte Spurenelemente. Klangspuren. Aufnahme und Wiederaufnahme eines Verfahrens. „Trotzdem und dennoch“ (auch auf FMP 0840/50, dort mit dem Trio Peter Brötzmann/Harry Miller/Louis Moholo). Trotzdem und dennoch läuft die Musik weiter, und sie brennt auf der Haut, und Harry ist nicht mehr am Leben. Und die nächtlichen Fahrten über die Landstraßen gehen weiter. Was Schlippenbach vor knapp zehn Jahren sagte, gilt unvermindert: „So sind die Free Jazz Pioniere zu Partisanen geworden, die mit ihren schäbigen Autos auf dem langen Marsch die oft unwirtlichen Stätten ihrer Musik abklappern“. Nur mit diesen euphorischen Worten gehen wir etwas vorsichtiger um, sprechen weniger von Pionieren und Partisanen und letztlich auch weniger oder anders von Free Jazz. Doch dort, wo die Musik stattfindet, ist es zumeist noch immer unwirtlich. Und ohne den Kampf der Musiker und die Wärme der Musik wäre alles verloren.

Ich erinnere mich an eine nächtliche Unterhaltung mit Brötzmann. Cottbus, Hotel Lausitz, zwanzig Musiker und Freunde und Freundinnen in einem Zimmer. Anruf von der Rezeption. Nein, sagt wer (Kowald vielleicht, das Gedächtnis versagt), gerade wir wollten uns wegen der Störung der Nachtruhe beschweren. Jetzt. Kaum aufhängt, setzte John Stevens erneut an, Trompete zu spielen. Damals also sagte Brötzmann: Nicht so, nicht wie die Petroleumfackeln am Wegrand in Italien. „Nie gesehen“ (Ulrich Gumpert/Günter Sommer: Versäumnisse; FMP 0740); „nichtsdestoweniger“ (Günter Christmann: Nevertheless) ist klar, worum es geht: nicht einfach so dahinleben. Wenn schon, dann brennen, nicht abfackeln. Trotzdem und dennoch. Brötzmann im Interview mit Thomas Mießgang: „Saxophon spielen, Jazzmusik spielen ist eine Sache, die nimmt dich in Anspruch, die nimmt deinen Körper, die nimmt dir alles weg. Damit musst du leben. „Body and Soul“. Wo auch immer.

Die Titel „Versäumnisse“, aufgenommen 1979, im einzelnen: „Clap Canyon (nie gesehen)“; „Hombre (nie begegnet)“; „Kalle Malle (nie verstanden)“; „Scheihawa (nie getrunken)“; „McKenna's Gold (nie besessen)“. Gut gesagt. Versäumt, nicht eingeholt, aufs Wort gebracht. Und dennoch: Musik geht nicht um Worte, nicht um Titel. Gnade uns Gott, wenn die Buchverlage das Titelverzeichnis des Bielefelder Katalogs entdecken. Nichts wird vor ihnen sicher sein. Und in einer Phase des Überdrusses werden sie sich dann selbst auf Braxtons „Composition 113“ und all seine mathematischen und graphischen Zeichen stürzen.

Ernst-Ludwig Petrowsky erzählte, wie er Ahornblätter sammelte. Früh am Morgen, im Park, im amerikanischen Allentown. Da begegnete er Rüdiger Carl, wohl auch Sven-Åke Johansson und Hans Reichel. Vielleicht schämte sich einer vor dem anderen, glaubte ein jeder, früh unbeobachtet zu sein. So gingen sie aufeinander zu, wortlos, mit Blättern in den Händen. Allentown muss ein Vorort von Bohnsdorf sein. (Vgl. auch "Bohnsdorfer Holz" auf FMP S-18 und "Bohnsdorf" auf FMP 0140.) Direkt unter der Einflugschneise hoch zum Himmel und zum Boden gespielt. Sven sagte mal: Ich fühle mich sehr weit weg, hier.

Die Worte, die Worte, die Worte. Marion Brown: “I don't play words”. Punkt und Zusatz: „Wörter können durch andere Wörter erklärt werden. Musik kann nicht durch andere Sounds erklärt werden“. Das gilt für alle Musik, auch wenn vorgegeben wird, europäische Kunstmusik sei gewissermaßen als Bildungsgut festgeschrieben, gewertet und gedeutet. Die Flüchtigkeit der Improvisation macht die Reste solchen Glaubens zunichte, steht der Aufzeichnung entgegen, sträubt sich gegen den Plattensammler, den Produzenten, den Publizisten. Widersetzt sich allen, die dem Augenblick Dauer, dem Akzidentiellen übergreifenden Charakter verleihen wollen. Und es ist doch so groß, was da passieren kann mit den Klängen im Raum und mit uns in der Zeit. Musikalische Magie versus musikalische Umweltverschmutzung. Vibrations, eine Ahnung von Healing Forces.

Wenn es dermaßen um Essentials geht, können wir es uns leisten, so vieles so schnell und gnädig zu vergessen. Aber alles (vielleicht außer uns selbst und dem Augenblick), das ist das Verzweifelndste (und vielleicht auch das Tröstlichste) an allem, alles ist nicht so wichtig. Art Blakey formuliert noch schärfer: „Wenn man geboren wird, beginnt man zu sterben. (...) Man ist nicht so wichtig. Ein Müllmann ist wichtiger als wir, denn wenn sich der Müll anhäufen würde, kämen wir alle um. Wir kommen und wir gehen. Und je eher wir das lernen, umso besser ist es für jeden von uns“. Okay, so einfach ist das dennoch nicht. Verrückt, dass die feinsten Differenzierungen der Klänge solche Kontroversen auszulösen vermögen. Als ob es dabei und in diesem Moment um alles ginge. Und vielleicht geht es auch um alles, selbst wenn wir tatsächlich im Müll umkommen sollten. Gegenwart, Gegenwelten. No Gossip (Keith Tippett/Louis Moholo; SAJ-28), Go-No-Go (Peter Brötzmann/Alfred 23 Harth; FMP 1150). Go-No-Go, der Moment, in dem der Abschuss einer Rakete noch gestoppt werden kann oder schon nicht mehr. Without the possibility of cancellation. Bei der Improvisation wie im Leben kann nichts zurückgenommen werden. Cancellation kann nicht akzeptiert werden.

Auszug aus dem Roman „Rayuela“ von Julio Cortázar: „Jetzt hatte Ronald eine alte Platte mit Hawkins aufgelegt, und die Maga schien unwillig zu sein über die Erklärungen, die ihr die Musik kaputtmachten und nicht das waren, was sie immer von einer Erklärung erwartete, einen Kitzel auf der Haut, das Bedürfnis, tief Luft zu holen, wie Hawkins vermutlich Luft holte, bevor er noch einmal die Melodie anging (...)“.

Jürg Solothurnmann berichtete von einem Kurs bei George List an der Indiana University. List spielte ein Stück Musik vor und ließ von allen, die seine Klasse besuchten, eine Transkription anfertigen. Am Ende verglich List die vorliegenden Transkriptionen. Kaum etwas war falsch, und doch erwiesen sich einige Aufzeichnungen als so entgegengesetzt, dass man kaum glauben mochte, sie bezögen sich auf die gleiche Quelle. Was hören wir eigentlich wenn wir Musik hören...

Die Pygmäen singen, um sich nachts im Wald nicht zu verlieren. Die Buckelwale singen in jedem Jahr ein anderes Lied. Alle Wale eines Clans folgen diesem Song und wechseln dann in jedem Jahr aufs Neue zu einer anderen Klangfolge. Capitol Records haben die Wale als Urheber anerkannt und führen die Tantiemen dem Whale Fund der Zoologischen Gesellschaft von New York zu. Was die Pygmäen anbelangt, so ist zu bezweifeln, dass ihnen von irgendwoher irgendwelche Hilfe zuteil wird.

Peter Brötzmann: „lch hatte eine Geschichte im Kopf, mein Leben lang, und das war Billie Holiday, und die hatte eine Stimme. Und ich finde, ein Saxophon ist nicht viel mehr als eine Stimme - eigentlich weniger“. Billie Holiday: „Man hat mir gesagt, dass niemand das Wort ,Hunger' so singt wie ich. Genauso das Wort ,Liebe'. (...) Alle Cadillacs und Nerze der Welt - und ich hatte schon einige - können das nicht aufwiegen oder vergessen machen, alles, was ich überall von allen Menschen gelernt habe, liegt in diesen beiden Worten. Zuerst braucht man etwas zu essen und ein bisschen Liebe, bevor man sich die Predigt von irgendjemandem über richtiges Verhalten anhören kann. - Alles was ich bin und was ich vom Leben will, lässt sich auf diese beiden Wörter zurückführen“. Billie Holiday: The Billie Holiday Songbook. Dann Stille. Und dann Peter Brötzmann/Solo: 14 Love Poems ( FMP 1060).

Eigenartig bei dieser Musik, wie stark die Geschichten ineinander greifen, so, als ob alles eine einzige, zusammenhängende, nicht enden wollende Geschichte wäre. Bis zum definitiven Ende. Sam Rivers, einmal, am Rande des Zusammenbruchs, auf der Bühne gemeinsam mit Billie Holiday: „lch hatte einen Anfall, brach in kalten Schweiß aus, fiel in Ohnmacht. Billie bemerkte es und sagte mir, ich solle nach draußen gehen. Sie würde mein Horn bewachen, so, wie sie das Horn von Lester Young bewacht hatte, wenn er nach draußen gehen musste. Als ich zurückkam, sang sie ,Detour Ahead'. Ich hörte die Qual in ihrer Stimme, und der Text schien sich auf einmal um mich zu drehen, und ich begann zu heulen“.

Dolphy, Jr., died suddenly in Berlin, Germany, on Friday, 29 June 1964. Die Wortketten. Der Tod und Berlin und Deutschland. Die Jahreszahlen, die eigene Erinnerung. 1964, Klassenfahrt nach Prag, frühes Joachim Kühn Trio, beginnender Vietnam-Krieg. Weit weg, heute, noch keine fünfzig Jahre Kriegsende/World War II. Die Historie und der Augenblick. Zweimal deutsch, mehrfach. Versuch einer Synopsis, „Krisis eines Krokodils“ (dieses auch auf FMP 0240 mit der Gruppe Synopsis). Radepur im Februar. In diesem bleiernen Winter 1988, der kein Winter, in dieser Landschaft, die dennoch kalt ist. Wildhäger und Freibeuter. Der Anfang eines Essays. Oder eines Romans. Auf jeden Fall konfuses Zeug. Und Jost G. und E. Jost werden entsetzt sein. Und die Leser werden immer noch fragen: Was zum Teufel ist denn nun mit der improvisierten Musik passiert? Ich sage: sie hat sich festgesetzt. Und ich sage: sie verzweigt sich.

Festgesetzt heißt nicht unbedingt etabliert, und es bedeutet noch lange nicht, denen, die diese Musik spielen, ginge es gut. Doch die Musik, die wir vereinfachend die improvisierte nennen, hat sich in den Nischen der Metropolen eingerichtet und eigene Netzwerke aufgebaut. Sie kann nicht mehr weggedacht werden von einer Stilphase auf die andere. Der Bestand ist sicherer geworden (nur nicht ökonomisch). Damit sinkt die Erwartung, die unerhörte musikalische Offenbarung möge sich augenblicklich einstellen. Wo der Reiz des Neuen schwindet, geht es um Feinarbeit. Und die ist allemal anstrengender für Macher und Hörer als die große, die revolutionäre Geste. Purismus als Möglichkeit der Verfeinerung. Nicht Perfektion, sondern Konzentration aufs Wesentliche. Auf der anderen Seite: Öffnung, wilde Stilkreuzungen, teils grelle Collagen. Cross-cultural als Stichwort. Verzweigung im internationalen und im stilistischen Sinne.

Längst gibt es Echos auf die „European Echoes“ der Endsechziger Jahre. Die neuen amerikanischen Improvisatoren bilden seit geraumer Zeit eine neue Herausforderung. In dem Maße, in dem der Bestand europäischer Improvisationsmusik sicherer erscheint, erwachsen zuvor ungeahnte Fragestellungen. Wollen die Erneuerer von einst nicht zu Klassikern werden, muss der Schwung erhalten bleiben, die Energie (und das meint nicht den Energie-Pegel des Spiels, sondern die Motivation des Musizierens). Stilistisch und geographisch grenzüberschreitende Beeinflussungen und Kooperationsbeziehungen bringen musikalische Materialien und Konzepte in Bewegung. Aber auch die vergleichsweise unspektakuläre Beschäftigung mit der Eigendynamik des selbst Entwickelten vermag vor dem Stillstand zu bewahren. Musiker wie Steve Lacy, Derek Bailey oder Evan Parker widerstehen dem vermeintlich fortlaufenden Innovationszwang, ohne die Dimension ihrer Musik einzuschränken. Immer mehr steht nebeneinander, immer weniger lässt sich übergreifend als Szene zusammenklammern.

Und doch: Immer und unaufhörlich: die Flüchtigkeit des Seins und Tuns, der Lust, der Verzweiflung. Coltranes Musik, schrieb Leroi Jones/Amiri Baraka (und formulierte damit einen der wahnsinnigsten Sätze, seit Camus seine frühe Prosa in die Maschine hämmerte), Coltranes Musik „ist einer der Gründe, warum Selbstmord so langweilig ist“. Das wäre dann mehr als eine Erklärung und nicht weniger als die Müllabfuhr. Und Leroi Jones führt aus (es geht um „Coltrane Live at Birdland“): „Die Musik auf diesem Album ist Live-Musik, es tut nichts zur Sache, ob sie über den Köpfen der Trinker und Clowns im Birdland entstand oder im Studio“. Bei „Ascencion“ mussten die Leute, die im Studio anwesend waren – viel zitierte Geschichte -, spontan schreien. Die heiligen Trinker, die Toningenieure der Seele und die balancierenden Clowns auf der Suche nach Augenblicken mögen den selbst verbrennenden/ leuchtenden Trane missverstanden oder vollends begriffen haben (wie vielleicht auch Liefland am Ende alles verstand, nur nicht mehr zu Papier zu bringen konnte).

Kein Fazit absehbar. Aber: If you dig this music (wie immer wir die mal benennen wollen), du stehst in einem anderen Kontinuum, in einer anderen Ästhetik (falls das Wort überhaupt greift). Du stehst am Rande der so genannten Hochkultur, immer auf der Kippe, im gleichen Leben mit ungleichen Chancen. Was zählt, bemisst sich nicht nach der Höhe der Zahl, sondern nach der Stärke des Empfindens. Meinrad Buholzer zitiert Cecil Taylor: „lmprovisation bedeutet die magische Erhebung in den Zustand der Trance“.

Jazz/improvisierte Musik als Schrei, als Widerpart, Widerstand zu dem, was allenthalben geschieht. Sound of the Cry. Oder auch feine Struktur. Soziale Verbindlichkeit oder individuelle Mythologie. Das archäologische Schürfen in den Sedimenten der eigenen Erinnerung. Politisch und ganz und gar unpolitisch und zuzeiten beides zugleich. Last Exit: Kann sein, dass jede Definition zu nichts führt. Auf der Überholspur: The Noise of Trouble.

Duke Ellington: „Es gibt wunderbare Musiker, die sich und dem ,Jazz' einen Namen gemacht hatten, bevor ich erschien. ,Jazz' ist nur ein Wort, das eigentlich keine Bedeutung hat. Wir haben es 1943 zum letzten Mal benutzt“. Noch genauer und noch einmal der Duke: „Der Begriff ,Jazz' wird immer noch mit großem Erfolg angewendet, ich verstehe jedoch nicht, wie man die heute existierenden Extreme unter einem Begriff zusammenfassen kann“.

Mit der Begriffsfügung „improvisierte Musik“, von der man glaubte, sie sei so schön offen, ist kaum etwas gebessert. Einmal: es wird zunehmend auch Komponiertes mit Improvisiertem verknüpft. Zum anderen: Auch das Improvisierte ist ja nicht so frei, wie man denken und glauben möchte. Bailey: Freie Improvisation „kann eine Tätigkeit von enormer Komplexität und Verfeinerung sein oder die einfachste und direkteste Handlung: eine Lebensaufgabe ebenso wie eine gelegentliche dilettantische Aktivität“. Höchste Anstrengung und Humbug, Hochkarätiges und Talmi stehen uns gleichermaßen ins Haus und unter gleichem Namen auf dem Podium. Die Kriterien für Qualität lasse sich in keinem Katalog nachschlagen, lassen sich nicht ablösen von Situation und Kontext. Die Magie des Augenblicks: „Let's lift the bandstand“. So der musikalische Imperativ von Monk, erinnert von Lacy. Einfach abheben.

Vom Jazz zur improvisierten Musik, zu „just music“, zu: egal, wie Ihr es nennt, wenn es nur (Salut an St. Cage) eure Ohren berührt, betrifft, beschäftigt, mithin mit eurer Existenz lose oder unausweichlich zu tun hat. Listen, man. Listen, baby. Zufällige und organisierte Sounds. Patchwork und Klangstrategien. Akustische Abfallprodukte, Innovation und Recycling. Wenn es um alles oder nichts geht, bekommt die Welt der Klänge unerhörten Wert. Und zugleich wissen wir doch, dass der Pluralismus individueller Lebenswege einen musikalischen Konsens unmöglich macht, einen wie auch immer gearteten Mainstream in Frage stellt. Selbst die so oft beschworene Verankerung im eigenen kulturellen Background kann durch ebenso authentisches Fernweh erschüttert werden. Immer weniger Sicherheiten also.

John Cage plaudert mit Brian Eno und gibt gar eine gemeinsame Performance mit Sun Ra. Miles Davis schwärmt von Prince und Michael Jackson. Bill Laswell und Peter Brötzmann mischen die tiefen Sounds des Asphaltlebens zusammen. Fusion, wäre der Begriff durch die lauen Jazzrockkompilationen nicht restlos verbraucht, könnte zu einem neuen Schlagwort werden. Geilheit und Puritanismus, Pole unserer Kultur, haben an Magnetismus gewonnen. Und im Spannungsfeld passiert mehr, als die Begriffe herzugeben vermögen. Duke Ellington: „Kategorien sind wie der Grand Canyon mit seinen Echos: Irgendjemand macht eine blödsinnige Bemerkung, und schon kommt sie tausendfach zurück. Ein Mensch, der befürchtet, dass sein Gegenüber seine Sprache nicht versteht, nimmt manchmal Zuflucht zu Kategorien und greift auf Linien, Kreise, Etiketten und Schubladen zurück, um den anderen das Verständnis zu erleichtern“. Prägnant der Duke, weit ausholend, übergreifend. Und an anderer Stelle noch schöner: „lch bin ein Sänger, ein ambulanter Sänger, ein primitiver ambulanter Sänger“. Schön gesagt und noch schöner gespielt (das so genannte Schöne, die so genannte Musik). Nur so, paar Blätter zusammengeweht...

Ein paar Biere im Februar und all die alten FMP-Platten um die Ohren. In diesem Februar, der einen weder zum Karneval noch an die Schreibmaschine treibt und der über Null kalt ist. Kein Fazit absehbar. Aber: Gut, dass es mit Coltrane und nach ihm solche (welche, das wäre nun wirklich ein Thema für einen Aufsatz) Musik gibt. Improvisierte/kreative Musik (fragwürdig all die Begriffe, hineingesprochen in die Leipziger Tieflandsbucht ohne Echo) zählt, glaube ich, mittlerweile zu unserem kulturellen Bestand, ist nicht mehr wegzudenken von einer Saison auf die andere, entwickelt aus sich selbst und noch immer aus der Reibung mit der Wirklichkeit heraus Energie und Bewegung. Die zwanzigjährige Anstrengung war demnach nicht folgenlos. Vieles (Belangloses, aber auch Bedeutendes) hat sich verflüchtigt, zerrinnt in der Erinnerung wie die Folge gelebter Augenblicke. Andererseits hat diese einst so einmalig anmutende Musik unvermeidlich eigene Traditionen hervorgebracht. Das macht es leichter und schwerer zugleich.

Die Dichotomie improvisierter Musik lautet: Bestand und Bewegung. Die Herausforderung heißt: Bescheidung oder Grenzüberschreitung. Die Zukunft ist, gottlob, nicht absehbar. „Das einzige, was zählt, in der Musik wie auch sonst“, sagt Steve Lacy, „ist Leben oder Tod. Jeder Stil, jeder Weg kann Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen, wenn er lebendig ist!“

Jazz. Free Jazz. Freie Musik. Just Music... Derek Bailey, enttäuscht von all den Beschreibungen, meint, eine der umfassendsten Aussagen hätten die alten Jazzleute getroffen. Die sagten einfach: „I just play, man!“ Keine andere Wahl, als die Ohren offen zu halten, die Sinne empfänglich, die eigenen Vibrations sendebereit. Mag auch, verglichen mit den Anfängen, weniger Erwartung und Utopie mitschwingen, auf die Sensibilität für die Klänge ringsum kommt es nicht weniger an als auf die Begriffe in den Debatten, die Worte, die durch das Gehirn, die Bilder, die durch die Träume und die Filme, die unter der Haut laufen.

aus: Broschüre „improvised music“ , Free Music Production(FMP), 1988

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